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21.08.2024

Nein heißt Nein

„Nein, lass das,“ mit normaler Stimme und hochgehobener Hand versucht Natascha Mustapic ihr Gegenüber aufzuhalten.

„Nochmal, lauter“ fordert Barbara Götz sie auf.

„NEIN, LASS DAS!“ Natascha Mustapic macht mit der Faust eine abwehrende Handbewegung. Die Kolleginnen um sie herum zucken kurz zusammen, weil sie dieses Mal viel energischer auftritt.

„Super, ganz toll“ ist Götz nun begeistert.

„Jede dritte bis vierte Frau mit Behinderung hat in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erfahren. Das ist zwei- bis dreimal häufiger als bei Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beauftragte Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2012. (Quelle: BMFSFJ) Begünstigt wird das, weil Frauen mit Behinderung häufig dazu erzogen würden, keine Ansprüche zu stellen und ruhig und unauffällig zu sein. Das bedeutet, sie setzen sich weniger zur Wehr, wenn sie jemand angreift.

An diesem Punkt setzen die beiden Trainerinnen, Barbara Götz und Borghild Strähle von der Frauenberatung Fetz Stuttgart, bei der Schulung an. „Keinen Schritt weiter – Selbstverteidigung für Frauen“ – unter diesem Titel hat die Fachabteilung Bildung der Theo-Lorch-Werkstätten die Schulung ausschließlich für Frauen organisiert. Hier sollen die Teilnehmerinnen lernen, dass sich wehren in Ordnung ist. Dass man nicht alles still aushalten muss.

Am Anfang des Schulungstages erzählen die Teilnehmerinnen in welchen Situationen sie sich unwohl gefühlt haben, Beleidigungen und abfällige Bemerkungen anhören mussten oder sogar körperliche Gewalt erfahren haben. Dann werden Götz und Strähle aber bald konkret: In Rollenspielen üben die Frauen zu zweit oder zu dritt. Dabei übernehmen die Trainerinnen oft die Rolle des Angreifers: „Na Süße, willst Du nicht mit mir mitkommen“ schleicht sich zum Beispiel Götz an eine Teilnehmerin an. Strähle fährt ganz dicht an eine andere Frau heran und legt ihr die Hand aufs Bein. Dann erklären sie, wie man sich dagegen wehren kann: Laut werden, aber sich auch trauen, die Hand kräftig wegzuschlagen. Dabei achten Götz und Strähle auch darauf, dass es immer im Verhältnis bleibt. Von Pfefferspray oder Waffen wie zum Beispiel Messern raten beide eindringlich ab, da diese auch immer vom Angreifer entwendet und dann gegen einen selbst eingesetzt werden können.

Dafür zeigt Borghild Strähle, die selbst Rollstuhl fährt, wie sich Personen, die in der Mobilität eingeschränkt sind, zur Wehr setzen können. Karina Folkmer übt das gleich mit Ihrem E-Rollstuhl und fährt frontal mit dem Rollstuhl der angreifenden Person kräftig gegen das Schienbein. Dabei schreit sie dann auch noch laut „Geh weg.“ Inge Brosche, Fachabteilung Bildung spielt in diesem Fall den Angreifer. Sie wird dabei von einem Polster geschützt, muss aber einen Ausfallschritt nach hinten machen. Das wirkt also sehr gut. Auch mit einem Rollator kann man sich so gut wehren. Wer an Krücken geht, kann mit einer Krücke dem Angreifer kräftig auf den Fuß stoßen. Es war gut, dass der „Fuß“ in diesem Fall nur eine Mütze war.

Bei der letzten Übung lernen die Anwesenden, dass Hilfe holen auch immer ein gutes Mittel zur Selbstverteidigung ist. Allerdings ist es wichtig, wie man das macht. Noch einmal steht Natascha Mustapic in der Mitte des Kreises und wird dieses Mal von Borghild Strähle am Arm gepackt. „Lass mich los“ ruft sie laut. Dann schaut sie sich im Raum um „Sie mit dem grauen T-Shirt, können Sie mir bitte helfen? Diese Person belästigt mich,“ spricht sie eine ihrer Kolleginnen an. „Genau so müsst Ihr das machen,“ bestätigt Strähle. Nicht einfach „Hilfe“ rufen, sondern ganz konkret eine Person ansprechen, die gerade in der Nähe ist. „Bei ‚Hilfe‘ fühlen sich die Menschen in einer Menge oft nicht angesprochen. Wenn man sie aber direkt anspricht als einzelne Person, dann geht das besser,“ erklärt Strähle noch.

Am Ende des ereignisreichen Tages gehen Natascha Mustapic und ihre Kolleginnen mit einem Zertifikat nach Hause. Viel wichtiger sind aber die vielen guten Tipps, wie sie Zukunft jedem klar machen können, dass Nein einfach Nein heißt.